Ein Winter im SpätfrühlingText und Bilder: Günter Seefelder
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Es ist Ende Mai 2013. Ich schaue aus dem Fenster und sehe nur zwei Farben - eintönig grauer Himmel und dichtes und kräftiges Grün der Baume, Büsche und Wiesen, dem durch das fehlende Licht der Glanz fehlt. Seit drei Tagen regnet es beständig. In einigen Tagen werden wir in den Nachrichten lesen, dass es sich um eine Regenperiode handelt, die historische Wasserstände bringen. Gut, dass ich das jetzt noch nicht weiß. Dieses Wetter ist gut für die Arbeit im Haus und im Büro. Ich denke daran, dass wir vor drei Wochen eine Zweitages-Bergtour gepant haben und wir diese extra erst auf Ende des Wonnemonats Mai gelegt, weil wir hoch hinaus wollen, nämlich von Garmisch-Partenkirchen durch das Reintal mit einer Übernachtung auf der Reintalangerhütte und dann auf die Zugspitze. Zu dieser Zeit ist auch in den höheren Lagen der Schnee schon weitgehend weggeschmolzen. Da wir von großem Ansturm ausgegangen sind, haben wir uns frühzeitig die Übernachtung auf der Reintalangerhütte fest reserviert. Morgen wollen wir starten. Macht uns das Wetter einen Strich durch unsere Rechnung? Nein, denn wir hatten vereinbart, auch bei schlechtem Wetter bis zur tiefer gelegenen Reintalangerhütte zu gehen und unsere Winterausrüstung mitzunehmen. Wir wollen uns dort entscheiden, ob wir weitergehen oder umkehren. Ein schöner Hütten-Spielabend ist ja auch ein lohnenswertes Ziel. Es ist so weit, wir starten in Garmisch-Partenkirchen am Skistadion. Mein Gott, ist das Wetter scheußlich. Es regnet ohne Unterbrechung und es ist kalt. 5 Grad Celsius zeigt das Thermometer - und das Ende Mai! Wir lassen uns nicht entmutigen, ziehen unsere warme Kleidung an, verstauen die Schneeschuhe auf unseren Rucksäcken und klappen die Regenschirme auf. Wir sind eingepackt wie eine Schnecke in ihrem Haus. Der Weg ist leicht, aber lang. Wir unterhalten uns und sind glücklich, dass wir losgegangen sind. Nach gut fünf Stunden Gehzeit kommen wir an der Hütte an, es schneit leicht. Die Wirtsleute sind glücklich, dass wir gekommen sind und nicht abgesagt haben. Wir sind die einzigen Gäste. Am nächsten Morgen starten wir, es schneit noch immer, die Wolken hängen tief. Ein Freund und ich haben uns entschieden, zumindest zu der um 700 m höher gelegenen Knorrhütte zu gehen. Die anderen gehen zurück nach Garmisch-Partenkirchen. Wir starten. Bald wird der Schnee tiefer und wir legen die Schneeschuhe an. Wir kommen jetzt in die Wolken. Diese werden immer dichter. Die Sichtweise beträgt gerade mal 30 m. Ich gehe vor. Ein Weg ist nicht sichtbar und auch keine Markierung, so dass ich auf mein Gefühl, auf meine innere Navigation angewiesen bin, um den rechten Weg zu finden. Jeder Schritt ist ein Abenteuer. Es ist hell, aber man sieht keine Erhebung oder Vertiefung im Schnee. Der Blick zum Boden und zum Himmel unterscheiden sich nicht. Keine Konturen, keine erkennbare Strukturen. In jede kleine Vertiefung stolpert man hinein. Man muss den Berg spüren und schnell reagieren, um nicht hinzufallen. Denn ein Aufstehen aus dem Tiefschnee ist immer sehr mühsam und kräfteraubend. In einer solchen Situation ist man eins mit dem Berg, mit der Natur verschmolzen. |
Jetzt sind wir seit gut zwei Stunden unterwegs. Ich habe ein gutes Gefühl, dass wir richtig sind. Wir gehen weiter, es ist anstrengend. Trotz Schneeschuhen sinke ich oftmals bis zu den Knien in den Neuschnee ein. Jeder Schritt durch den tiefen Schnee verzehrt Kräfte, aber ich verspüre noch immer viel Kraft in mir. Immer wieder öffnet sich der Nebel etwas und man hat manchmal für kurze Zeit eine Sichtweite von 100 bis 200 m. Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir richtig sind. Müssen wir mehr nach links oder geradeaus hinauf oder eher noch mehr nach rechts? Wenn wir die Knorrhütte nicht in einer Entfernung von maximal 100 oder 200 m treffen, dann gehen wir vorbei ohne es zu merken. Dann bliebe uns nur noch der Rückweg auf unseren Spuren, die allerdings durch den ständigen Neuschnee immer schwächer werden. Ich hole die Karte heraus und versuche, das innere Bild des zurückgelegten Weges mit der Karte abzugleichen. Die Unsicherheit bleibt. Ich entscheide mich, für den Weg eher nach rechts. Wir sind stark konzentriert, irgendwelche Zeichen zu sehen, die uns die Entscheidung erleichtern. Als sich der Nebel kurzzeitig wieder lichtet sehe ich etwa 50 m höher eine Stange herausragen. Das muss wohl eine Orientierungsstange für den Weg sein. Wir suchen uns einen Aufstieg, an dem keine Lawinengefahr besteht. Auf einer langgezogenen Felsnase klettern wir hinauf zu der Stange. Der Hang ist sehr steil und wir gehen auf allen Vieren. An den Felsen können wir uns gut festhalten. Die Schneeschuhe krallen sich in Fels und Schnee. An der Stange angekommen stellen wir fest, dass wir uns auf einer Hochfläche mit geringer Neigung nach oben befinden. Hier liegen große Felsen, die teilweise zwei bis vier Meter hoch sind. Mein inneres Gefühl macht einen Luftsprung. Wenn hier so große Felsen liegen, dann bedeutet dies, dass ein gutes Stück weiter Felswände sein müssen, aus denen diese herausgebrochen sind. Hinter der Knorrhütte befinden sich hohe Felswände. Da die Felsen aber nicht weiter heruntergerollt sind, bedeutet dies weiter, dass wir uns auf einer größeren Hochebene befinden müssen. Das deutet darauf hin, dass auf dieser Hochfläche die Knorrhütte stehen müsste. Ich gehe gerade aus nach oben. Ich sehe nichts, aber ich merke, dass ich ansteige. Nach etwa 10 Minuten Gehzeit lichtet sich plötzlich der Nebel für kurze Zeit und ich sehe unscharfe Konturen, die wie ein großes Berghaus aussehen. Ich gehe weiter und tatsächlich: die Knorrhütte liegt vor uns. Geschafft! |